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Lesepredigt

24. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (13. September 2020)

L1: Sir 27,30-28,7                     Aps: 103                     L2: Röm 14,7-9                          Ev: Mt 18,21-35

 

Liebe Gemeinde,

Petrus stellt im heutigen Evangelium Jesus eine Frage. Dieser antwortet zuerst mit einem kurzen Satz; dann erzählt er eine längere Geschichte. Das ist typisch für Jesus, er kleidet seine Botschaft gerne in die Form von Geschichten. Der Vorteil dabei ist: Geschichten sind nahe an der Wirklichkeit des Menschen angesiedelt und sind zudem vielschichtiger als trockene Lehrsätze, was der Komplexität menschlichen Lebens eher entspricht. (Schade nur, dass diese Kultur des Geschichten-Erzählens auf die Kindheitsphase eingeengt wurde.) Aus den zahlreichen Auslegungsmöglichkeiten sollen zwei herausgegriffen werden.

 

Da ist zum einen die menschliche Ebene, in der die „betrübten“ Diener im Mittelpunkt stehen: Sie beobachten, wie einer aus ihrer Mitte vom König seine Schulden erlassen bekommt; dann sehen sie, wie derselbe Diener unbarmherzig ist und einen Menschen, der bei ihm Schulden hat, hartherzig ins Gefängnis werfen lässt. Das „betrübt“, ja erzürnt die Diener und sie melden es dem König. Diese Reaktion der Diener ist der Dreh-und Angelpunkt der Geschichte, ohne ihre Empörung und ihr Eingreifen wäre der Diener mit seiner Verhaltensweise durchgekommen. So aber wendet sich die Geschichte und der unbarmherzige Diener wird bestraft.

Denken wir einmal nach: Warum empören sich die Diener? Ging es ihnen beim Hören des Evangeliums genauso, empfanden sie die Vorgehensweise des 1. Dieners als ungerecht, ja skandalös? Wenn ja, gleich die nächste Frage: Und warum ist das so? Ist es nicht

bemerkenswert, dass wir Menschen von heute genauso empfinden wie die Diener damals vor 2000 Jahren? Es handelt sich offensichtlich um eine menschliche Reaktion, die von Kultur und Zeitunterschieden unabhängig ist. Es geht um ein tiefes humanes Gefühl von Gerechtigkeit, von Barmherzigkeit. „So etwas macht man nicht“, damals wie heute. Diese Art von Gerechtigkeit lässt sich nicht in gesetzliche Paragraphen einhegen.

Die Diener sehen und handeln und führen so die Wende herbei. Sie könnten uns Menschen von heute fragen: Und was macht ihr? Ihr empört euch doch auch über manche Dinge, die in eurer Umgebung oder Gesellschaft unrecht sind und was macht ihr? Resigniert die Schultern zucken und stillhalten, sodass es nicht zu einer Wende kommt wie bei uns? Ja, diese Diener fordern uns auf, wachsam zu sein, auf das eigene Gewissen zu achten und wenn man

ungerechte Verhaltensweisen beobachtet, dies zu benennen und so vielleicht zu einer Veränderung beizutragen. Sie wollen ein Beispiel hören? Denken sie einmal an den Fleischunternehmer Tönnies: Was er getan hatte, war völlig legal und doch war es nicht richtig. Ob sich daran in Zukunft etwas ändern wird, liegt auch an uns…

 

Kommen wir nun zur religiösen Ebene: Vordergründig geht es um das Verzeihen. Wir sollen Erbarmen haben mit den Menschen, die sich an uns versündigt haben, weil Gott zuerst

Erbarmen mit uns hatte. Jesus führt die Frage des Petrus, nämlich wie oft man verzeihen soll, mit seiner 77er Zahl ins Absurde. Für ihn ist die Frage falsch gestellt; es geht ihm um den Grundsatz: Warum soll ich überhaupt verzeihen? Ihm geht es dabei nicht um ein Gebot, um eine Pflicht des Glaubens. Mit seiner Geschichte weist er auf Gott hin, der uns Menschen zuerst verzeiht und deswegen können – und nicht sollen – auch wir Menschen verzeihen. Gott hat uns zuerst geliebt, uns von Anfang an seine Erbarmen geschenkt. Und aus dieser Erfahrung heraus können auch wir den Mitmenschen lieben, achten und verzeihen. Eine ganz normale menschliche Reaktion, was ich empfangen habe, gebe ich weiter. Es ist wie bei der

Kindererziehung: Was ich von meinen Eltern erfahren habe, gebe ich an meine Kinder weiter. Diese Art des Glaubens kommt ohne Vorschriften aus, braucht keine Gebote und Weisungen.

 

Ein Letztes: Hier taucht das Bild einer Kirche auf, die sich den Menschen ganz und gar zu- wendet, die ihnen Räume lässt oder bereit stellt, um die Liebe Gottes zu erkennen oder zu erfahren; die den Gläubigen keine Vorschriften mehr zu machen braucht, weil sie ihnen zutraut, von sich aus das Richtige zu tun. Eine wahrhaft menschenfreundliche Kirche, die hier am Horizont erscheint.

 

Ja, es ist schon erstaunlich, was in solchen Geschichten enthalten ist und welche Erkenntnisse man aus ihnen schöpfen kann.

 

           Dr. Ulrich Graser, Pastoralreferent